Geochemische Modellierung
Für Sicherheitsanalysen von geologischen Tiefenlagern für radioaktive Abfälle ist es notwendig, Vorhersagen über die Migration von Radionukliden zu treffen. Obwohl geologische oder geotechnische Barrieresysteme den Kontakt von Formations- oder Grundwasser mit den radioaktiven Abfällen bis zu einem gewissen Grad verhindern können, muss das Eindringen von wässrigen Lösungen in die Einlagerungsräume im Rahmen des langfristigen Sicherheitsnachweises eines Endlagers berücksichtigt werden. Im Nahfeld eines geologischen Tiefenlagers wird in der Regel davon ausgegangen, dass das Eindringen von Wasser Radionuklide mobilisiert, die in den Abfallformen vorhanden sind. Einige sind nicht durch Löslichkeitsgrenzen begrenzt (sogenannte „instant release fraction“), andere hingegen schon. Nach der Mobilisierung durchlaufen die Radionuklide wässrige Speziationsreaktionen, die von der Zusammensetzung der Lösung im Allgemeinen und insbesondere vom pH-Wert, dem Redoxpotential und der Ionenstärke abhängen. Viele Radionuklide interagieren auch mit den verschiedenen vorhandenen Oberflächen. Dabei kann es sich zum Beispiel um (korrodierte) Abfallbehälter, Barrierematerialien oder Wirtsgesteinsmaterialien handeln. Mit der geochemischen Modellierung lassen sich all diese Reaktionen im Prinzip simulieren. Wenn die geochemischen Modelle mit Hydrodynamik- oder Diffusionsmodellen gekoppelt werden, ist es auch möglich, die Migration von Schadstoffen in der Umwelt vorherzusagen.
Ziel der Arbeiten in dieser Gruppe ist die Aufklärung und modellhafte numerische Beschreibung der Speziation von Radionukliden in der Lösung (Lösungskomplexierung und Löslichkeit) und an Grenzflächen (Oberflächenkomplexierungsmodellierung). Die geochemischen Modelle sollen einen Beitrag zu Sicherheitsanalysen für verschiedene Wirtsgesteinstypen unter Verwendung modernster Modellansätze leisten.
Die Gruppe verwendet verschiedene Codes, um eine Reihe von thermodynamischen und reaktiven Transportberechnungen durchzuführen. Die Codes umfassen sowohl kommerzielle (The Geochemist's Workbench, https://www.gwb.com/) als auch Freeware-Software (Visual MINTEQ, https://vminteq.com/, PHREEQC, https://www.usgs.gov/software/phreeqc-version-3 ) für modernste Speziationsberechnungen im Zusammenhang mit der Lagerung von nuklearen Abfällen und dem Transport von Radionukliden. Wir decken wässrige Lösungen von verdünnten bis zu gesättigten Bedingungen ab und haben Erfahrung mit Modellen zur Berechnung von Aktivitätskoeffizienten mit SIT- oder Pitzer-Ansätzen. Hier waren wir die ersten, die Oberflächenkomplexierungsmodelle bis hin zu extremen Salzgehalten einschließlich Pitzer für wässrige Lösungen und nicht-elektrostatische (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0016703714006814 ) oder elektrostatische (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S092777571930593X) Oberflächenkomplexierungsmodelle unter Verwendung erstklassiger experimenteller Daten entwickelt haben.
Unsere Hauptkompetenz liegt eindeutig in der Modellierung von Grenzflächengleichgewichten mit Hilfe elektrostatischer Oberflächenkomplexierungsmodelle, wobei wir nicht nur Modellkonzepte entwickeln und parametrisieren, sondern auch Computerprogramme für Anwendungen schreiben, die in den verfügbaren Codes nicht enthalten sind.
Ein aktuelles Beispiel ist der charge-regulation-code SINFONIA (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S000186862100110X), der wässrige Speziations- und Oberflächengleichgewichte für Fälle implementiert, in denen sich elektrische Doppelschichten zwischen zwei Oberflächen bei sehr kleinen Abständen überlappen, wie in Abbildung 1 skizziert.
Die Modellierung umfasst in der Regel sowohl Vorwärts- (Vorhersagen, Simulationen mit bekannten Parametern) als auch inverse Simulationen (Parameterschätzung auf der Grundlage qualitativ hochwertiger experimenteller Daten und molekularer Simulationsergebnisse) mit dem Ziel, wann immer möglich ein Maximum an Prozessverständnis in die Modelle einzubeziehen.
Wir haben ein starkes Interesse an Grenzflächenphänomenen im Allgemeinen und bevorzugen einen kombinierten experimentellen und modellierenden Ansatz (https://pubs.acs.org/doi/full/10.1021/acs.chemrev.2c00130) mit besonderem Schwerpunkt auf Radionukliden (https://pubs.acs.org/doi/10.1021/cr300370h). Neben statischen Batch-Experimenten umfassen die experimentellen Ansätze die Elektrokinetik (elektrophoretische Mobilität, Strömungspotenzial), Säulenexperimente (zur Prüfung von Adsorptionsmodellen in reaktiven Transportsituationen) oder die Quarzkristall-Mikrowaage (zur Gewinnung quantitativer Daten über Auflösungs- und Adsorptionsphänomene, typischerweise gekoppelt mit der Elektrokinetik) sowie modernste Ansätze wie nichtlineare optische Methoden oder Oberflächendiffraktionsexperimente in Zusammenarbeit mit externen Partnern.
Ziel ist es, ein Maximum an Informationen über ein Zielsystem zu gewinnen, um sie anschließend in fortschrittliche Modelle einfließen zu lassen (https://pubs.rsc.org/en/content/articlelanding/2015/fd/c4fd00260a), die schließlich zu Modellen führen, die zum Beispiel die Rückhaltung von Radionukliden an Barrieren in einem tiefengeologischen Endlager auf mechanistischer Ebene simulieren können (https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S0021979719313657).
Die experimentellen Techniken und molekularen Simulationsansätze werden in enger Zusammenarbeit innerhalb des Instituts, aber auch mit Kollegen von außerhalb des KIT angewendet.
Die Expertise auf dem Gebiet der Oberflächenkomplexierungsmodelle hat zu einem Buch zum Thema (https://www.sciencedirect.com/bookseries/interface-science-and-technology/vol/11/suppl/C) und zu einem renommierten Kurzlehrgang mit zwei Bänden in der Reihe „Reviews in Mineralogy and Geochemistry“ geführt (https://pubs.geoscienceworld.org/rimg, Vol. 91, in Arbeit).
Neben geochemischen Modellen werden auch Transportsimulationen zur numerischen Beschreibung von Diffusionsprozessen vom Labormaßstab (cm) bis zum Untertagelabor (m) durchgeführt. Die Diffusionsmodelle werden in Phython-, unter zu Hilfenahme der Finiten-Elemente-Bibliothek FEnics (https://fenicsproject.org/) entwickelt. Ein beispielhaftes Modell für einen Labortest der Radiotracerdiffusion durch eine Bentonitscheibe, der von Kollegen am INE durchgeführt wurde, ist in Abbildung 2 dargestellt.
Abb. 2: Beispielhafte Diffusionssimulation für die Diffusion von Radiotracern aus Glasfläschchen, die in einen Bentonitring eingebettet waren. Das Layout des Modells ist links dargestellt, wobei das Mesh und die Modell-Domänen hervorgehoben sind. Das Insert zeigt das reale Experiment. Das rechte Bild zeigt die vorhergesagte Radionuklidverteilung innerhalb der Modelldomäne nach 347 Tagen.
Ansprechpartner:
+49 721 608 24023 |